„Unmöglich! Wie soll das gehen. Das ist viel zu schwer für meine(n) Kleine(n)! Das gehört verboten!“, ärgert sich eine Gruppe Jungeltern im Café an unserem Nachbartisch.
„Weißt Du, worum es da geht?“, fragt mich meine Frau.
Schwer zu sagen… Die Kinder der Aufgeregten spielen in der Nähe und sind schätzungsweise sieben bis neun Jahre alt. Offensichtlich geht es um eine für neunjährige Kinder völlig unzumutbare Aufgabe, die alleine beim Gedanken daran bereits seelische Störungen und posttraumatische Belastungen sowohl bei Kindern als auch Eltern zur Folge hat und bei der der Gesetzgeber wieder einmal versäumt hat, anständige Gesetze zu erlassen zum Zwecke, unsere Kinder vor derlei Schändung und Demütigung zu bewahren. Das trifft heute ja auf nahezu alles zu.
Eventuell geht es um Schokoriegel, die sich nicht einhändig öffnen lassen, wodurch man für den Verzehr kurzzeitig sein Smartphone aus der Hand legen muss. Oder es geht um die neue Rutsche auf dem Spielplatz, die entgegen der letzten Elternpetition noch immer keinen Rolltreppenanschluss hat. Vielleicht ist der Aufreger auch die Linde im Stadtpark, die zwingend in Plastikfolie eingewickelt gehört, damit die Blüten im Sommer nicht vom Wind auf den Eisbecher des Nachwuchses geweht werden. Es könnte aber auch um Schnürschuhe gehen, die immer noch ohne aufgedruckten Warnhinweis verkauft werden:
„Achtung, das ordnungsgemäße Schließen dieser Schuhe erfordert das Knüpfen eines doppelt auf Slip gelegten Kreuzknotens. Unsachgemäßes Binden der Schnürsenkel kann zu Stürzen mit Todesfolge führen.“
Wir lauschen unauffällig dem Gespräch unserer Tischnachbarn. Wobei von Lauschen nicht wirklich die Rede sein kann. Mittlerweile echauffieren sich die Mamas – und ein Quotenpapa – in einer Tonlage, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch vereinzelt Tauben in die Flucht schlägt.
„Sechs Kilogramm waren es gestern! Das ist einfach zu viel!“, hören wir heraus. ‚Zu schwer‘ bezog sich also tatsächlich auf ein Gewicht. Damit fällt das Thema ‚Schuhe binden‘ als Schleife des Anstoßes schon mal raus.
Gleich darauf fallen die Begriffe Mathebuch und Sportzeug, und Frau und ich ahnen, was die Gemüter erhitzt. Auf die endgültige Bestätigung müssen wir nicht lange warten: „Der Schulranzen ist zu schwer, das ist im doppelten Wortsinne untragbar!“, ruft der Quotenpapa aus.
Eigentlich waren Frau und ich ja darauf vorbereitet. Dennoch müssen wir so auflachen, dass wir einen Teil unseres Kaffees verschütten. Seit Jahren sind wir Klassenelternbeiräte in den verschiedenen Klassen und Altersstufen unserer Kinder. Es beginnt kaum ein neues Schuljahr, in dem nicht besorgte Mütter – oder Mütteriche – aufschreien, dass Kinder den Schulranzen auf gar keinen Fall tragen können.
Dabei interessiert es wenig, dass die Kinder ihre Schulranzen heute ohnehin kaum noch tragen, sondern sie meistens von ihren Eltern aus dem Kofferraum bis direkt ins Klassenzimmer gebracht bekommen (Gerüchten zu Folge immer öfter in einem separaten Fahrzeug, damit das Kind nicht etwa schon während der Fahr an das Thema Schule erinnert wird).
Noch in der fünften Klasse riefen mich besorgte Eltern an und forderten, dass die Kinder sich die schwere Last der Schulbücher untereinander aufteilen müssten, so dass immer zwei Kinder gemeinsam ein Buch nutzen. Die Lehrer sollen dafür bitte einen Buchverteilungsplan erstellen und diesen mit den Kindern besprechen, damit die Kinder immer wüssten, welches Buch sie jeweils mitbringen müssen. Ja, das kann man natürlich machen, oder wir lassen den Lehrern die Schulstunden einfach mal wieder für: Unterricht. Wenn sich zwei Sitznachbarn die Buchschlepperei teilen wollen, könnten diese beiden sich ja … miteinander absprechen.
Im Internet findet man gleich mehrere Stellungnahmen von Schulelternbeiräten, die öffentlich warnen: Kinder mit zu schweren Schulranzen könnten nicht mehr rechtzeitig bremsen, wenn „beim eiligen nach Hause laufen, … die Ampel plötzlich rot“ wird.
Wann sind wir nur so empfindlich geworden? Ein gesundes Kind soll nicht in der Lage sein, ein paar Kilo Schulmaterial in einem ergonomisch geformten Schulranzen zu tragen? Vielleicht wird es Zeit, unsere Kinder wieder besser zu trainieren. Wenn der Schulranzen zu schwer ist, dann helfen Muskeln! Die bekommt man aber weder beim Fernsehschauen, noch beim Autofahren. Muskeln entstehen u.a. beim Laufen, Toben und Sandburgen bauen oder beim Klettern auf Bäumen. (Dieser Trick klappt nach neuesten medizinischen Studien übrigens unabhängig vom Geschlecht.) Ja, selbst beim Tragen der wöchentlichen Einkäufe dürfen Kinder mit anpacken, ebenso wie beim Küche putzen oder Rasenmähen. (Auch dies ist unabhängig vom Geschlecht.) Das ist nebenbei bemerkt keine Kindesmisshandlung, sondern sogar gesetzlich vorgeschrieben (§1619 BGB). Wann fangen wir an, unsere Kinder wieder zu fordern, statt sie nur zu (be)fördern?
Meine Frau und ich schauen uns an, und erinnern uns. Auch wir sorgten uns anfangs ob der schweren Schultaschen. Doch spätestens Kind vier hat uns eines Besseren belehrt an jenem Frühlingstag:
Die Schule war schon lange aus, und Kind vier war noch nicht nach Hause gekommen. Zunächst nicht ungewöhnlich, vielleicht hatte sie auf dem Weg noch etwas Spannendes beobachtet oder trödelte halt ein bisschen herum. So langsam aber könnte sie doch mal auftauchen. War ihr vielleicht etwas zugestoßen? Hatte der schwere Schulranzen sie übermannt, und jetzt lag sie hilflos wie ein Maikäfer auf dem Rücken irgendwo auf dem Schulweg an den Boden gekettet durch den zementschweren Ranzen?
Dann endlich hörten wir sie um die Ecke biegen. Fröhlich trällernd tapste sie die Straße entlang. Neben ihrem „überschweren“ Schulranzen trug sie zusätzlich – wie einen Hola-Hoop-Reifen um die Hüften gelegt und fest mit beiden Händen umklammert – einen Autoreifen. Stolz präsentierte sie ihr Beutestück: „Den hab‘ ich am Schwimmbad im Gebüsch gefunden!“, strahlte sie uns an.
Eine beachtliche Leistung, das Schwimmbad ist direkt neben der Schule. Das Kind musste den Reifen also fast einen Kilometer so getragen haben, und ganz deutlich war auf ihrem Gesicht abzulesen: Der Reifen war ihr alles andere, aber in keinem Fall zu schwer!
Details zu Schulranzen regelt übrigens die DIN 58124. Diese enthielt lange Zeit auch eine Empfehlung zum Maximalgewicht. Diese Gewichtsobergrenze wurde im September 2010 gelöscht.